Woche 5 - Ankommen

31. Tag - Montag, 18.06.2018

Zumutung und Gnade

Auch dieser Tag beginnt wieder mit einer sehr schönen Überraschung. Gisela aus Oberursel, die Passantin, die uns gestern mitten in Frankfurt auf ihrem Weg zur Oper als Pilgergruppe ausmachte und uns unbedingt einen Zettel mit einem Segensspruch zukommen lassen wollte, steht plötzlich in unserem Frühstücksraum. Sie hatte heute früh entschieden, dass sie, statt ihre Steuererklärung zu machen, sich spontan unserer Pilgergruppe anschließt. So kann sie den Segensspruch gleich selbst vorlesen, als wir zur Anfangsrunde um einen Brunnen an der evangelischen Johanniskirche stehen. Um den Hals trägt sie ein wunderschönes goldenes Kreuz, ihr Kommunionkreuz, das sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr getragen hatte.

Wir freuen uns nach wie vor jeden Morgen, wenn neue Pilger zu uns stoßen und sei es auch nur für einen Tag. Gestern gingen mit uns Ina und Lutz, Elke und Stephan, Dorothee sowie Felicitas. Am heutigen Tag ist Elvy wieder mit dabei, die uns mit ihrer Schwester Karin bereits am allerersten Pilgertag in der Schweiz begleitete. Ja, wer einmal mit dabei war ...
Neu am Start sind heute Ulrike sowie Trude und ihr Sohn Matthias, die fest entschlossen sind, mit uns in Arenberg anzukommen. Trude ist 84 Jahre jung und wir alle sind gespannt, wie sie wohl den heutigen Aufstieg zum Großen Feldberg bewältigen wird.
Bevor wir die Tagesetappe in Angriff nehmen, gönnen wir uns ein paar stille Minuten in der wunderschönen Kirche.


Wir hören das Tagesevangelium (Mt 5, 38-42), das eine echte Zumutung ist. Jesus mutet zu, sogar mit denen gut umzugehen, die einem schaden. Wer kann das schon, auch noch die andere Backe hinhalten, wenn man geschlagen wird? Jesus legt nahe, in schwierigen Situationen, verblüffend zu reagieren, mit einer überraschenden Initiative aus der Spirale der Gewalt auszusteigen, sich und den Gegner zu entfeinden.
Freilich braucht das eine gewisse Stärke. Eine Liebe, die immer wieder genährt wird in der Stille und im Gebet. Wir hören den Rat von Mutter M. Cherubine an eine Schwester:
„Wenn nicht immer alles so geht, wie Sie wünschen, so gehen Sie still vor das Tabernakel und sagen es unserem lieben Herrn. Das ist das Geheimnis des Friedens und des Glückes in unserer Seele.“

Wir pilgern in Stille durch das malerische Kronberg und dürfen dann den ganzen Tag lang durch Waldlandschaft gehen. Nach dem gestrigen Tag in der lauten Stadt mit tausend Eindrücken und Begegnungen und dem anstrengenden Laufen auf Asphalt, ist es nun Balsam, auf Waldboden und fast für uns allein unterwegs zu sein.
Wir haben nicht den Druck, ein Fußballspiel erreichen zu müssen, und gehen ganz gemütlich in großen Serpentinen den langen Anstieg zum Feldberg hinauf. Trude wird mit Gehstöcken versorgt, von ihrem Marschgepäck samt Handtasche befreit und findet in unserer Gruppe verschiedene Begleiter und Schrittmacher. Geschafft, aber glücklich erreichen wir am frühen Nachmittag den Gipfel des Feldbergs (818 m Höhe).

Auch heute sind wir unterwegs mit verschiedenen Gebetsanliegen. Besonders berührt uns ein Anliegen, das uns per Email erreicht. Eine Frau bittet um unser Gebet für ihren neunjährigen Neffen, der vor einer schweren Operation steht. Die Hüfte muss dreimal gebrochen werden, damit sich eine Pfanne bilden kann. Der Junge leidet seit 18 Monaten an einer Hüftnekrose, hat starke Schmerzen, kann sich nur schwer fortbewegen und hinkt stark. Wir nehmen ihn und auch seine Eltern im Herzen mit auf unseren Weg und haben die Idee, ihm von diesen schönen Ort gemeinsam eine Karte zu schreiben.

Auf dem Aussichtsplateau sitzend bekommen wir noch einen weiteren Impuls zum heutigen Evangelium. Wir hören von Antoine Leiris, einem Radiojournalist, der bei den Anschlägen in Paris seine Frau verloren hatte. In einem offenen Brief an die Attentäter schrieb er: „Ich tue euch nicht den Gefallen, euch zu hassen. Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt; auf den Hass mit Wut zu antworten, würde bedeuten, der gleichen Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid ...“
Die Zeilen rühren manche von uns zu Tränen. Und Tränen stehen Gisela im Gesicht, als sie sich nach dem Impuls von uns verabschiedete, um mit dem Feldbergbus nach Hause zu fahren.
Wir singen ihr hinterher „Wechselnde Pfade. Schatten und Licht. Alles ist Gnade. Fürchte dich nicht“.

Der Abstieg nach Glashütten, unserem Etappenziel, ging dann ziemlich flott. Über den Limespfad mit Überresten eines alten Römerkastells und einen Glaslehrpfad – hier wird seit alters her mittels Quarz und Asche Glas hergestellt – erreichen wir den Friedhof am Ortseingang, wo wir unsere Abschlussrunde halten. Trude strahlt. Für sie war es ein Tag voller „Gnade“ – und sie bekommt von uns allen einen großen Applaus.

Morgen darf es dann wieder etwas flacher werden. Auch wenn das Thema steil bleibt. Wir gehen weiter mit der Bergpredigt und stellen uns der nächsten Zumutung Jesu „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,43- 48).

Wenn nicht immer alles so geht, wie Sie wünschen, ... sagen es unserem lieben Herrn

Mutter M. Cherubine